Rezension zu „Über das Meer: Mit Syrern auf der Flucht nach Europa“ (edition suhrkamp) von Wolfgang Bauer, Taschenbuch, 6. Oktober 2014


Der Zeit-Reporter Wolfgang Bauer und der tschechische Fotograf Stanislav Krupar wagen einen ungeheuren Selbstversuch: Sie nehmen neue Identitäten an und begeben sich auf ein lebensgefährliches Abenteuer in die Welt der Schlepperbanden. Zusammen mit syrischen Flüchtlingen legen sie im April 2014 ihr Schicksal in die Hände von Schleusern. Von Ägypten aus wollen sie übers Meer ihre Flucht nach Italien antreten, eine Flucht, die zuvor schon für eine Unzahl von Menschen mit dem Tod endete. Wüsste man nicht, dass dieses Buch auf Tatsachen beruht, hätte man es für einen kühnen Abenteuerroman gehalten. Doch die Erlebnisse von Wolfgang Bauer und Stanislav Krupar sind echt – und unglaublich bedrückend.

Ihre Reise beginnt in Kairo, wo sie einem ägyptischen Vermittler für eine Überfahrt nach Europa 3000 Dollar bezahlen. Bauers Bericht macht klar, dass eine Flucht nur für besser betuchte Menschen möglich ist, da die Beträge für die Schleuser, die Bestechungen und die zuweilen anfallenden Lösegeldforderungen Unsummen an Geld verschlingen. Zudem werden die Flüchtlinge oft noch vor ihrer Überfahrt von Banden an der Küste überfallen und ausgeraubt. Eins wird klar: Die ärmere Bevölkerung hat keine Chance auf ein besseres und menschenwürdigeres Leben in europäischer Freiheit.

Die Flüchtlingsgruppe besteht aus syrischen Bürgern, die zuvor aus dem Kriegsgebiet in Syrien nach Ägypten geflohen waren. Darunter ist auch Amar Obaid, den Wolfgang Bauer bereits bei einer vorherigen Reportage über den syrischen Bürgerkrieg kennengelernt hatte. Er ist der einzige der Flüchtlinge, der die wahre Identität der beiden Europäer kennt. Amar ist ein wohlhabender Kaufmann aus Syrien, der nach der Revolution 2011 mit seiner Familie nach Ägypten floh. Dort hatte er sich ein neues Leben aufgebaut, handelte erfolgreich mit Möbeln aus Indien und Bali, bis in Ägypten nach dem Sturz des Präsidenten Muri die Stimmung kippte. Syrer galten plötzlich als Schmarotzer und Terroristen; in den Medien wurde gegen sie gehetzt und die Fremdenfeindlichkeit nahm gefährliche Ausmaße an. Amar hat nun Angst, dass er auf einer seiner Geschäftsreisen keine Einreiseerlaubnis mehr nach Ägypten bekommen würde. Deshalb hat er sich dazu entschlossen, nach Europa zu fliehen, zunächst alleine. Sobald er sein Asyl in Deutschland erhalten hat, möchte er seine Frau und die drei Mädchen nachholen.

In Alexandria treffen Wolfgang Bauer und Stanislav Krupar zusammen mit Amar auf Alaa und Husan, zwei Brüder aus Damaskus, auf deren Freund Baschar, auf den Kellner Jihadi und die Cousins Rabea und Asus. Asus hatte es zuvor bereits fünfmal versucht, übers Mittelmeer nach Europa zu kommen, jedoch ohne Erfolg. Nach anfänglicher Skepsis wächst die Gruppe zu einer festen Gemeinschaft zusammen, was für die weiteren Ereignisse bitter nötig ist. Tagelang müssen die Flüchtenden in verschiedenen heruntergekommenen Mietunterkünften ausharren, werden von ihrem Schleuser Nuri immer wieder vertröstet und hingehalten. Mehrmals denkt die Gruppe, dass es losgeht; sie packen in Windeseile ihre Sachen, um dann doch wieder nur in ein anderes Loch abgeschoben zu werden. Die menschenunwürdigen Verhältnisse bekommt der Leser hautnah mit, und hin und wieder lassen einem die Erzählungen fassungslos die Haare zu Berge stehen.

Eines Tages schafft es die Gruppe tatsächlich bis zum Meer. Doch bevor die Gruppe auch nur in die Nähe des Wassers kommt, brechen die Menschenhändler die Aktion ab. Der Wellengang sei zu hoch. Auf der Rückfahrt wird ihr Minibus gestoppt und die Flüchtenden entführt. Konkurrierende Schlepperbanden wollen Lösegeld erpressen. Weitere nervenzerreißende Tage vergehen, bis es endlich auf die Boote geht, die die Flüchtlinge zum Mutterschiff bringen sollen. Auf halber Strecke streikt der Motor. Als er doch wieder anspringt, geht die Fahrt weiter und das Mutterschiff rückt in greifbare Nähe. In der Zwischenzeit werden die Insassen komplett gefilzt; ihnen wird ihr letztes ägyptisches Geld abgenommen, das sie in Europa ohnehin nicht mehr brauchen würden. Doch plötzlich geht alles ganz schnell. Die Flüchtenden werden auf einer kleinen Insel aus den Booten geworfen; kurz darauf wird die Gruppe von der Küstenwache auf brutalste Weise festgenommen und in ein Internierungslager gebracht.

Wolfgang Bauer und Stanislav Krupar sind gezwungen, ihre wahren Identitäten preiszugeben und werden in die Türkei ausgewiesen. Nach neun Tagen bekommen sie ihre Papiere und fliegen nach Istanbul. Für die Reporter ist ihr gefährliches Abenteuer an dieser Stelle zu Ende. Doch die anderen Flüchtlinge begeben sich weiter auf eine Odyssee, die noch lange kein Ende haben wird. Wolfgang Bauer bleibt in Kontakt mit ihnen und verfolgt ihr Schicksal weiter.

Diese Reportage ist ein schockierendes und aufrüttelndes Zeugnis für uns Europäer; sie öffnet uns die Augen für die Hölle der Flüchtlingssituation und gibt den Flüchtenden, die wir sonst nur aus anonymen Zahlen und Tabellen kennen, ein Gesicht. Die persönlichen Schicksale gehen einem sehr nahe, und so manches Mal kann man sich kaum die Tränen verdrücken. Zurecht stand „Über das Meer: Mit Syrern auf der Flucht nach Europa“ 2015 auf der Auswahlliste zum Theodor-Wolff-Preis. Ein aufrührendes, bewegendes, zutiefst erschütterndes und überaus wichtiges Buch.